Obwohl man vermutlich einen Artikel nicht mit dem Wort „nein“ einleiten sollte, mache ich es dennoch ganz bewusst:

Nein, dies wird kein weiterer Artikel über die Auswirkung der Globalisierung, mangelhafte Risikobetrachtungen, kompetentes Führen virtueller Teams auf Distanz, Krisenmanagement, Turnaround-Bedarf oder andere Schlagworte, die seit Wochen auf sämtlichen Social-Media-Kanälen rauf und runter gespielt werden und inzwischen von jedem halbwegs kompetenten Denker im Business-Kontext ausführlich beleuchtet wurden.

Diesbezüglich kann ich den geneigten Leser an dieser frühen Stelle also vollumfänglich beruhigen!

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Aber nachdem ich gestern mal wieder fast den ganzen Tag am Schreibtisch verbracht habe, um Ideen zu entwickeln, wie ich meine auf Basis des Bayerischen Infektionsschutzgesetzes seit mittlerweile sieben Wochen ausgefallenen Aufträge kompensieren könnte, kam mir spontan folgender Gedanke:

Fast jeden Tag wird mir aus vielfältigen Anlässen vor Augen geführt, dass komplexe Fragestellungen bzw. Systeme nicht durch Wissen beherrschbar sind, wie dies z.B. bei einem mechanischen Uhrwerk der Fall ist, bei dem die Wirkzusammenhänge zwar kompliziert, aber durchaus kausal sind und festen Regeln folgen.

Sondern dass diese komplexen Problemstellungen ausschließlich durch die Expertise von sogenannten Könnern basierend auf ihrem Talent oder ihrer Inspiration beurteilt werden können, da sich im komplexen Umfeld diese Wirkfaktoren zusätzlich noch gegenseitig beeinflussen auf eine Art und Weise, die nur unzureichend bekannt ist bzw. sein kann.

Erschwerend kommt wohl im Regelfall noch hinzu, dass nicht einmal die Anzahl der Faktoren vollumfänglich abgeschätzt werden kann. Überraschungen sind in komplexen Situationen somit wohl unvermeidlich und können nur selten ignoriert werden.

Daher – und das ist wichtig – darf man sich nicht der Illusion oder der Erwartungshaltung hingeben, dass diese Könner auch wirklich stets die richtige Antwort haben. Aber die Wahrscheinlichkeit, dass sie die richtigen Entscheidungen treffen, ist signifikant höher.

Was passiert nun, wenn man Probleme nicht transformiert, um deren Beschreibung so zu präzisieren, dass sie mit der passenden Herangehensweise lösbar werden?

Die folgende Matrix, die auf der Studie „Vom Wissen zum Können“ von Gerhard Wohland, Judith Huther-Fries, Matthias Wiemeyer und Jörg Wilmes aus dem Jahr 2004 beruht, und die mir kürzlich im virtuellen Live-Training „Organisationsdesign“ der intrinsify academy von Mark Poppenborg und Lars Vollmer nahe gebracht wurde, soll den Zusammenhang visualisieren:

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Ähnlich einer Emulsion, die unter hoher Dynamik, z.B. in einer Zentrifuge, in ihre Bestandteile getrennt wird, verlieren Systeme, egal ob Unternehmen oder Staaten, in dynamischen Zeiten ihre Homogenität. Sie spalten sich auf in einen komplizierten und einen komplexen Anteil.

Für die komplizierten Anteile reicht es völlig aus, Entscheidungen auf Basis von Wissen zu treffen. So gesehen betreibt Verschwendung, wer mehr Aufwand als nötig in ihre Lösung steckt, z.B. lange Debatten über etwas anstellt, was sowieso bereits längst bekannt ist. Diese Entscheidungen sind im Grunde genommen also trivial und verdienen, auf die Spitze getrieben, noch nicht mal den Namen „Entscheidung“!

Wird aber ein Problem behandelt, ohne seine Beschreibung zu transformieren, wird der komplexe Nachteil vernachlässigt, und dies führt gemäß der erwähnten Studie notwendigerweise zu Havarien.

In Bezug auf das Corona-Virus, das uns nun seit Wochen kollektiv – welch ironische Doppeldeutigkeit – den Atem raubt, gibt es nun zwei Möglichkeiten:

Entweder handelt es sich gar nicht um ein Problem mit komplexen Anteilen, sondern „nur“ um ein kompliziertes. Dann wäre es tatsächlich richtig und sogar trivial, den „Wissen“-Schaftlern zu vertrauen.

Oder es handelt sich tatsächlich um ein Problem mit hochkomplexen Anteilen, wovon ich persönlich selbstverständlich ausgehe. Dann wäre es fatal, sich ausschließlich auf die zu verlassen, die unstrittig wertvolles Wissen beisteuern!

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Nicht erst in den letzten Tagen zeigen und häufen sich die Stimmen der Politik-Kritiker, die eine ganzheitliche Betrachtung fordern, und damit die Einbindung von Philosophen, Systemtheoretikern, (Volks-)Wirtschaftsexperten und Psychologen. Weil sie eine große Havarie des Systems fürchten, um im einmal gewählten Sprachgebrauch zu bleiben!

Da aber der Artikel nicht den Titel „was die Politik aus der Corona-Krise lernen sollte“ trägt widme ich mich nun noch einmal der Ausgangsfrage, was moderne Unternehmen damit zu tun haben:

In komplexen Situationen wäre es deutlich angebrachter, nicht die altbekannten Fragen zu stellen „WAS ist die richtige Entscheidung?“ oder „WIE kann das Problem gelöst werden?“

Sondern die einzige sinnvolle Frage wäre:

„WER kann dieses Problem am besten lösen?“

Und dann wird man mit hoher Wahrscheinlichkeit – und das gilt nun gleichermaßen für die Politik wie auch für Unternehmen – zu der Erkenntnis kommen, dass es nicht immer zwingend die „Chefs“ sein müssen bzw. können, die Entscheidungen aufgrund ihrer formalen Macht treffen, sondern dass es gilt, die besten Könner zusammen zu bringen, das Potenzial der Schwarmintelligenz zu nutzen und die Situation mit Talent und Inspiration ganzheitlich so gut es eben zu diesem spezifischen Zeitpunkt geht zu lösen.

Und – wie gemacht, um meine These zu untermauern – noch während ich den Artikel schreibe, meldet der Focus, dass „ein Gerichtsurteil nahelegt, dass es in Bayern praktisch keine Ausgangsbeschränkung mehr gibt“.

Irgendwie finde ich das Wort „Havarie“ bedauerlicherweise gerade stimmig, nicht nur weil ich so langsam wieder an meine Auftragsausfälle denke, die hier als vergleichsweises Leichtgewicht im Gesamtkontext nur stellvertretend für die weitreichenden Auswirkungen stehen.

Nun, jedes Unternehmen hat jeden Tag die Chance, mögliche Havarien mit der richtigen Herangehensweise zu vermeiden…